Nacht-Geheimnis

“Ein jeder nimmt sein Geheimnis mit ins Grab, wie es ihm möglich war, zu leben.”

Hugo von Hofmannsthal

Aber tragen Geheimnisse den Verrat nicht stets stillschweigend im Gepäck?  Kann also – innerhalb des (logischen) Sprachspiels – etwas eindeutig als Geheimnis behauptet werden, wenn es nie gelüftet wurde oder werden kann? Und besteht das Geheimnis vieler Geheimnisse einfach darin, dass da gar nichts ist, hinter dem Schleier des Geheimnisvollen? Für die Religionen genügt es ja auch, einen Gott zu behaupten, um den Gläubigen alles Mögliche dafür abzuverlangen; dass das Geglaubte existiert, scheint für die Wirksamkeit der Glaubens-Gesetze und –Sätze von geringer Wichtigkeit.

Und wenn, um zwei Uhr nachts, über die regennassen Balkonblumenblätter hinweg, auf dem Bürgersteig gegenüber, plötzlich eine heftig schwankende Frau erscheint, auftaucht und zu sehen ist, wie sie ihren spitzähnlichen Hund hinter sich her zerrt, der immer wieder ergebnislos versucht, an Zaun und Baum stehen zu bleiben, bis er, genervt, sich kläffend beklagt, ohne auch damit, abgesehen von einem undeutlichen Fluch der Davoneilenden, der Befriedigung seiner Bedürfnisse näher zu kommen…

So ist dies – vielleicht – kein freundliches Bild und auch keines, das Freude macht. Und wenn das Schöne mit dem, was Freude bereitet, verbunden sein soll: Wie viel Vergessen ist dann nicht nur nötig, sondern notwendig, um (wenigstens) zufrieden leben zu können? Und besteht das Geheimnis des glücklichen oder geglückten Lebens nicht zuletzt darin, sich eine besonders ausgeprägte Fähigkeit anzueignen, vergessen zu können?

Kann es sein, dass die Gedanken (nicht zuletzt) deshalb für frei erklärt wurden, damit wenigstens “im Geiste” all die kleinen und großen Gemeinheiten oder Grausamkeiten begangen werden “dürfen”, die – ausgeführt – verboten sind, oder gar unter Strafandrohung stehen? 

Was bedeutet es also (für mich), dass ich mich zwar fragen kann, ob (und wie) es mir überhaupt möglich ist, mich zu fragen, ohne selbst darauf eine (mir schlüssige) Antwort geben zu können? Oder kann ich mich – in Wirklichkeit – gar nicht (be-)fragen und gehört diese Rhetorik-Figur zu all dem, Tag für Tag durch alle Kanäle fliegenden, Sprach-Müll des “Nicht Wirklichen / Unglaublichen / Spannenden” usw. usw.?

Die Sprache der Laute kennt keine Fragen an sich selbst. Sie gilt fraglos. Sie ist fast immer dem Wahren ganz nah.

Ich erkläre also das Unklare und Ungeklärte zu meinen Favoriten beim Spiel mit der Wahrheit.