Der Erzähler betritt an einem Sommerabend das Spielcasino einer Kleinstadt. Wie immer, gelingt es ihm erst dann, schrittweise seine Unsicherheit zu verringern, sobald er das leise Klicken spüren kann, mit dem die eingewechselten farbigen Jetons in der linken Jackentasche durch seine Finger gleiten. Trotz der Hitze draußen, sind fast alle Tische geöffnet.
Nur die jeweils letzte, etwas eindringlicher klingende Absage des „Nichts mehr, bitte!“, stört das Gleichmaß, mit dem die Croupiers monoton die Annoncen platzieren, die Kugel handgelenkig in den glänzenden Holzkessel werfen, verloren und gewonnen wird. Das Geräusch, das ihm immer als das deutlichste in Erinnerung bleiben wird, ist ein Rasseln, welches durch das aufreizend schnelle Abziehen der verlorenen Jetons vom Tableau unmittelbar nach Beendigung des Spiels verursacht wird. Das Spiel des Erzählers ist es, alle Zahlen, die durch sechs teilbar sind, ‚en plein‘ zu setzen. Auf diese Weise hofft er, sämtliche kessel- oder tableaubedingten Serien und scheinbaren Regelmäßigkeiten vermeiden zu können.
Daher lautet seine Annonce jedes Mal: „Das Einmaleins der Sechs, bitte“, und es gelingt ihm, mit dieser ungewöhnlichen Platzierung, wenigstens einen Moment lang, nicht nur bei den Croupiers für Aufsehen zu sorgen. Es gehört zu seiner Überzeugung, und allein deshalb gefällt ihm das Spiel, dass er sich nur dadurch jenen geringen Vorteil zu verschaffen vermag, den er benötigt, um überhaupt an seine Gewinnchancen glauben zu können. Denn dass langfristig die Vorteile eindeutig zuungunsten der Spieler verteilt sind, hatte er von Anfang an zu den Bedingungen gerechnet, die es als unveränderbar hinzunehmen galt. Der Erzähler beginnt sein Spiel immer erst dann, wenn seine sechs Zahlen fünfmal hintereinander ausgeblieben sind.
Während dieser Vorbereitungsphase, die nicht selten eine Stunde in Anspruch nimmt, bleibt ihm – neben des eher mechanischen, fast routinierten Speicherns des zu seinem Angriff nötigen Zahlenmaterials – ausreichend Zeit, die mit noch mehr Sicherheit ausgestattete Position des Saalbeobachters einzunehmen. Ungestörter und dafür desto aufregender als in diesem Spielzusammenhang, an dem er als Beobachter und Gegenstand der Beobachtung (nicht nur der eigenen, sondern auch jener der Croupiers) teilnimmt, kann er sich das Spiel der Gedanken und all ihrer Wortmünzen nicht vorstellen.
Sein Satz vom Nachmittag fällt ihm ein und scheint mit einem Male identisch und phasengleich mit dem unbeirrbaren Lauf der weißen, im Kesselholz kreisenden Kugel: „Nur jenes Schweigen soll gelten, das eine Spur zu ziehen imstande ist; etwa als Zeit-Raum nach dem Verklingen eines Wortes…“ Begleitet von mehrmaligem, tiefem Luftholen und Ausatmen, versammeltem Schauen, ganz ohne jede sonstige, sichtbare Tätigkeit gelingt ihm mühelos die Fortsetzung: …oder jetzt: als Sekunden nach dem Verkünden der gefallenen Zahl und ihrer Bestimmungen: 24, SCHWARZ, PAIR, PASSE.
Die Verlagerung und Rückkehr des Gedankens zur augenblicklichen Wirklichkeit – sehr oft war ihm dieser so leicht vorstellbare Schritt bis zu seiner Unmöglichkeit schwer gefallen.
Hier aber, wo die meisten verlieren, verliert sich auch die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt im Spiel mit der Zeit. Alle Ereignisse scheinen entweder im Einklang mit dem Lauf der Kugel zu sein oder sie befinden sich im Widerspruch dazu; es gibt nur richtig oder falsch, von Fall zu Fall, ZUFALL.
Der Erzähler registriert, wie nacheinander dreimal Zero, dann 35 und 26 getroffen werden. Seine Bedingungen, um das Spiel tatsächlich zu eröffnen, sind also restlos erfüllt. Seine Hand beschäftigt sich auch längst mit den Chips, um sie als kleinen Stapel, zusammengehalten von den dazu nötigen vier Fingern der linken Hand, dem Drehcroupier zum Satz aufzulegen.
Schon ganz am Anfang, als er auf diesen Tisch zugegangen war, traf einer seiner ersten, noch um Orientierung bemühten Blicke sich mit jenem einer Spielerin, die nur kurz und doch erkennbar von ihren Spielgeldtürmchen aufgeschaut hatte; jedenfalls eindringlich genug, damit er diesen Augenblick einige Zeit bei sich behielt.
Und jetzt – wie um den Eindruck von vorhin zu erneuern und dadurch zu bestätigen – wiederholt sich diese Begegnung als gemeinsame Ebene im Raum, gebildet von unsichtbaren Verbindungen der beteiligten Augenpaare – mathematischer Ausdruck unerklärter Übereinstimmung oder Differenz ? Und noch immer beschäftigen ihn die Zeitsätze, als er zum zweiten Mal nicht sicher sein kann, ob der zu ihm reichende Blick lediglich ein fragloses Einverständnis oder aber selbst eine Frage ist, deren sinngemäßer Inhalt, aller Wahrscheinlichkeit nach, weder in dieser Situation noch überhaupt jemals zu klären sein würde.
In diesem Moment seines anhaltenden Zögerns wendet sich die Spielerin, wie um alle Zweifel für jetzt und immer zu beseitigen, schnell und bestimmt dem rechts von ihr sitzenden Croupier zu und legt mit leichtem und geübt wirkendem Schwung sechs Jetons auf. Ihre Worte sind – fast geflüstert – nicht zu verstehen.
Der Erzähler verfolgt mit einer von geworfener Zahl zu Zahl sich steigernden, der Verzweiflung beängstigend nahe kommenden, jedenfalls alle Sinne beanspruchenden Haltung die Offenbarung seines – wie er glaubte – Satzgeheimnisses, was noch dazu auf eine, wie ihm vorkam, unerträglich verletzende Weise geschah in Form einer fast schon aufreizenden Langsamkeit, mit welcher der Croupier die Platzierung der Jetons vornimmt.
Ähnlich den verlangsamten Wiederholungen von Strafraumszenen während der Übertragung eines Fußballspiels, nimmt er dies und alles weitere wahr wie längst Gesehenes: dass die Kugel abgeworfen wird, während seine Augen, die rechte Kolonne des Spielfelds hinunter gleitend, nacheinander Verbindung mit den, von 100-Mark-Jetons halb verdeckten Zahlen 6, 12, 18, 24, 30 und 36 herstellen und es ihm dabei unmöglich ist, der Fortsetzung des Spielgeschehens anders zu folgen, als mit dem Ausdruck, der entsteht, wenn die Fingerspitzen beider Hände die Schläfen berühren.
Diese theatralische Pose beibehaltend und ohne einen einzigen Gedanken auf die Möglichkeit zu verwenden, selbst zu setzen, verharrt er, mit von Wurf zu Wurf gelösterem Blick auf das Roulette, bis beim 13. Mal keine der sechs Zahlen getroffen wird. Bei all seinen bisherigen Versuchen hatte er niemals eine solche Serie erlebt.
Wie um die in der Zwischenzeit am Tisch aufgekommene Unruhe noch zu vergrößern, erhebt sich die Spielerin, mit einem angedeuteten Lächeln grüßend, und geht in die Richtung, in der sich die Bar befindet. Sie verschwindet sogleich hinter einer ringsum mit Spiegeln verkleideten Säule aus dem Blickfeld des Erzählers, der wenig später das Casino der Kleinstadt verlässt.
Mit jedem seiner Schritte, die ihn rasch von der schon hell erleuchteten Eingangstreppe in die ländliche Dunkelheit bringen, glaubt er zu spüren, wie sich Kopf und Körper straffen. Und selbst kaum noch Sichtbares prüft ein frisch geschärfter Blick.