Abend der Amsel

Anflug:

Berichte, was die Augen schauen

Beschreibe, wie das Unsichtbare

der Zauber ist in manchen Dingen.

Erzähle, wie die Hände schweigen.

Schon seit vielen Wochen erobert sich “meine” Amsel (also scheinbar weiblich “an sich”, wie die Meise und allein schon deshalb irgendwie anders als die Kollegen Star oder Spatz?) allabendlich kampflos ihren Auftrittsort, vis à vis von meinem Fenster auf einem eisernen Balkongeländer, in luftiger Höhe unterhalb des Dachs. Von dort herab erzählt sie mir mit zwitscherndem Gesang in einer Sprache, die – so glaube ich zu hören – keine Fragen kennt, dafür, wer weiß, unendlich viele Laute, mit denen sie lautmalend beschrei(b)t, wie es Abend wird – vielleicht, und warum nicht?

Niemand außer mir – jedenfalls soweit ich sehen oder mir vorstellen kann und will – schenkt ihr die Beachtung, die sie sich längst verdient hat.

Reiht sich die kleine Begebenheit vom “Abendlied der Amsel”, wie alles Beschreiben seit jeher, nicht ein ins unermüdliche Abschreiben dessen, was den Sinnen begegnet. Und wären weder Ton, noch Zeichen oder Bild auch nur denkbar ohne ihre Vorgänger, um selbst, wieder “nur” vorläufig, wieder und wieder anders zu werden? Alles in Allem: nicht mehr (sicher auch nicht weniger) als mitunter geglückte Versuche, dem sinnlos Erscheinenden doch noch Erlebenswertes abzuringen – wortwandelnd, einordnend, konstruierend, spekulierend, träumend?

Und jetzt – wie um das soeben Notierte nachdrücklich zu bestätigen – fliegt die Sängerin diagonal hinunter, fast bis zu meinem Balkon und zu mir, lässt sich auf einem Stromkabel nieder, das die inzwischen brennenden Straßenlaternen versorgt, und kommt allmählich zum Schluss ihres Abendgeläuts. Nach dem letzten Ton schwirrt sie in hohem Tempo ab und stürzt sich kopfüber in die hereinbrechende Dunkelheit ihrer Stadt. Vorhang!