Fortschreitende Nächte

                Die Wissenschaft, so ist noch immer in glaubensähnlicher Naivität zu hören und, öfter noch, zu lesen, bringe den Fortschritt. Der Grad der Befreiung der Frau von der Unterdrückung durch den Mann zeige den Grad gesellschaftlichen Fortschritts im Laufe der menschlichen Geschichte… Zum Fortschritt erklärt wurde ferner die Eheerlaubnis für gleichgeschlechtliche Paare, desgleichen die staatliche Prämie für Eltern, die ihre Kleinkinder nicht in die Kita schicken oder die Verbannung von Schweinefleischgerichten aus den Schul- und Kita-Küchen, aus Rücksicht auf Muslime.
                In der Medizin wurde die Anwendung von Opiaten oder von Penicillin als Fortschritt gefeiert. Und “glücklicherweise” (!) mag längst nicht mehr auszuschließen zu sein, dass irgendwann die Freigabe von Marihuana genauso zum Fortschritt gerechnet werden darf wie eine “freiwillige” lebenslange Arbeitszeit oder eine solche in Form der Tätigkeit für die Gesellschaft.?
                Allen Fortschritts-Verkündern und -Verkünderinnen gemeinsam jedoch ist es, nahe zu legen oder gar zu unterstellen, dass durch die propagierten Errungenschaften (nicht nur die Atombombe wurde als “Errungenschaft“ des Menschen bezeichnet) oder Tat-Sachen etwas besser geworden sei oder jedenfalls werden würde als zuvor; dies meist ohne jegliche Evidenz oder gar Versuchen, Begründungszusammenhänge herzustellen. Und da tagtäglich von überallher Fortschritte auf nahezu allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gemeldet werden, erhält die Fortschrittsgläubigkeit tagtäglich, so unaufhörlich wie reichlich, frische Nahrung; sie wird immer dicker und fetter, bis…na ja, bis sie irgendjemandem zum Halse heraushängt.

Vielleicht wird es aber irgendwann doch noch fortschrittlich genannt werden, grundsätzlich zu bezweifeln, dass wer auch immer eine Legitimation habe oder gehabt hätte, zu behaupten oder gar zu entscheiden, dass auf der mehr und mehr verlängerbaren Reise – (was “natürlich” “an und für sich” ebenfalls als Fortschritt gilt) – nicht nur der Menschen, sondern jedes einzelnen Individuums, unaufhörlich vorangeschritten werden müsse, und diese ganze Angelegenheit  auf jeden Fall und “sehr gern” immer angenehmer zu werden habe?

“…und die Wahrheit wird so lange Märtyrer machen, als die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muss, Anstalten gegen den Irrtum zu treffen.”

(Friedrich Schiller: “Über die ästhetische Erziehung des Menschen – Sechster Brief”)